Bizarre
Winterlandschaft |
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ESSLINGEN: 1929 türmen sich auf dem Neckar die gefrorenen Schollen und laden zum „großen Eisgang“ | ||
Von Dagmar Weinberg |
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Die klirrende Kälte und die Tatsache, dass einige Binnenschiffer wegen flottierender Eisschollen und zugefrorener Schleusen im Plochinger Hafen festsitzen, lässt bei manchem betagten Esslinger Erinnerungen an ein außergewöhnliches Ereignis wach werden - den „großen Eisgang“. Mit einem gewaltigen Krachen hatte sich das Naturschauspiel im Winter 1929 Bahn gebrochen: Die dicke Eisschicht, die seit Wochen den Neckar bedeckt hatte, zerbarst. Die Schollen türmten sich wild übereinander, schoben sich weit über das Ufer hinaus und hinterließen eine bizarre Winterlandschaft. Die zog natürlich jede Menge Neugierige an, die sich beim Sirnauer Schießhaus und anderswo zum „großen Eisgang“ auf den Neckar wagten. Längst ist klar und von Ingeborg Letzelter in ihrem Buch „Unser Sirnau“ beschrieben, welchen Wetterkapriolen die Esslinger diesen außergewöhnlichen Spaziergang zu verdanken hatten: War es an Weihnachten und zum Jahreswechsel 1928/29 noch angenehm warm gewesen, „setzte Mitte Januar ein immer stärker werdender Frost ein, der sich Ende Januar/Anfang Februar in sibirische Kälte steigerte“, schreibt die Sirnauer Heimatforscherin. Pioniere sprengen das Eis Das Thermometer sank auf minus 25 Grad und darunter, der Neckar fror meterdick zu. Um zumindest beim Wasserhaus eine Rinne offen zu halten, wurden Pioniere der Reichswehr abkommandiert. Sie sprengten das Eis. Am 26. und 27. Februar 1929 setzte dann auf den Höhen ein Wettersturz ein. Die Plustemperaturen ließen auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald Schnee und Eis schmelzen. Das von den Bergen herabströmende Tauwasser konnten die noch tief gefrorenen Böden im Tal nicht aufnehmen. Es ließ die Eisdecke des Neckars bersten. Die in Bewegung geratenen Schollen verwandelte der darauf folgende Frost dann in eine arktische Landschaft. Ein derartiges Spektakel hat sich seit dem Winter 1929 nicht mehr wiederholt. Zwar erinnern sich alt eingesessene Esslinger, dass sie in den 30er- und 40er-Jahren als Kinder auf dem alten Neckar, also dem Seitenarm des Flusses, immer mal wieder Schlittschuh gelaufen sind. Doch der Freineckar sei nicht mehr zugefroren - zumindest nicht so dick, dass man sich auf Kufen hätte aufs Eis wagen können. Soweit ist auch jetzt noch nicht, trotz des inzwischen weitgehend ruhenden Schiffsverkehrs. Dennoch ist die Sperrung des Neckars in der Region eine Premiere. Seitdem der Kanal 1968 zwischen Esslingen und Plochingen eröffnet wurde, haben sich nach den Unterlagen des Wasser- und Schifffahrtsamts nie größere geschlossene Eisflächen breit gemacht. Auch als vor drei Jahren im Januar die Temperaturen in den Keller rutschten, „mussten wir den Neckar im Stuttgarter und Esslinger Raum nicht sperren“, weiß Barbara Grüter, stellvertretende Amtsleiterin des Wasser- und Schifffahrtsamts. Damals hatte Eis rund um Heidelberg die Binnenschiffer gestoppt. |
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Beim Sirnauer Schießhaus wagen sich die Esslinger im Februar 1929 zum „großen Eisgang“ auf den Neckar. |
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![]() Stolz posieren zwei mutige Herren mitten auf dem Neckar für den Fotografen. |
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Artikel
vom 13.02.2012 © Eßlinger Zeitung |