BUNDESWASSERSTRASSE SEIT RUND 100 JAHRE

Als der wilde Neckar gezähmt wurde

Vor gut 100 Jahren ist der mäandernde Neckar in ein Korsett aus Stahl und Beton gezwängt worden.
Mit dem Ausbau zur Bundeswasserstraße wurde auch der Steinkohlehunger der Industriegebiete im Neckartal gestillt.

Esslingen. Ausgerechnet die Fils stand Pate. Vor 101 Jahren wurde im Mineralbad Ditzenbach im oberen Filstal (Kreis Göppingen) der Staatsvertrag über den Bau der Großschifffahrtsstraße Mannheim-Plochingen unterzeichnet. Am Tisch saßen damals Vertreter des Reichsverkehrsministeriums und der beiden Neckar-Anrainerstaaten Württemberg und Baden. Das Land Hessen stieß später dazu. Das war der Startschuss für ein Jahrhundertprojekt, das darauf abzielte, den Neckar für die Großschifffahrt nutzbar zu machen, den Steinkohlehunger der wachsenden Industrien zu stillen und gleichzeitig Wasserkraftwerke an den Staustufen zu bauen, was die Elektrifizierung auch im Kreis Esslingen voran brachte.

In den folgenden Jahrzehnten verwandelte sich der mäandernde Neckar bei Esslingen in einen Kanal, dessen natürliches Ufer häufig durch Spundwände und Betonmauern ersetzt wurde. Auch die hohe Kraftwerksdichte brachte immense Veränderungen für das ökologische Gefüge von Pflanzen- und Tierwelt. Inzwischen gibt es renaturierte Abschnitte am Neckar wie die Auenlandschaft mit natürlichem, baumgesäumten Ufervorland am Pochinger Neckarknie. Rückzugsorte für bedrohte Tier- und Pflanzenarten sind außerdem im 1992 eingerichteten Naturschutzgebiet „Alter Neckar“, einem Neckaraltarm zwischen Altbach und Esslingen, entstanden. Im Gegensatz zu Straßen und Schienenwegen bietet die Wasserstraße heute einigen Naherholungswert sowie Platz für Wassersport ler wie die Esslinger Kanuten und Ruderer und Freizeitkapitäne.


Viele Menschen ließen sich von Esslingen neckaraufwärts schippern, als 1968 der Plochinger Indusstriehafen eröffnet wurde           Foto: EZ Archiv

Begonnen hat alles mit harter Arbeit. Tausende Arbeiter gruben in den ersten Jahrzehnten noch in schweißtreibender Handarbeit mit der Schaufel in der Hand einen Kanal mit 2,50 Meter Fahrwassertiefe und entsprechend dimensionierten Schleusen und Seitenkanälen. So entstand Platz für Schiffe mit einer Tragfähigkeit bis zu 1200 Tonnen. Finanziert wurde das gigantische Infrastrukturprojekt damals über die eigens gegründete Neckar AG, heute eine Tochter der EnBW, die damals mit Reichsdarlehen, Geldern der drei Länder und dem einiger Kommunen ausgestattet wurde.

Die ersten Vorstände dieser AG wurden der Ministerialrat Otto Hirsch und der Wasserbauingenieur Otto Konz, der das 1917 von der Stuttgarter Ministerialabteilung neu geschaffene Kanalbauamt leitete. Die gleichnamige Brücke in Plochingen erinnert bis heute an den Erbauer des Neckarkanals. Die Pläne von 1921 sahen den Bau von 26 Staustufen und 26 Schleusen vor, auf die Strecke Heilbronn–Plochingen entfielen davon 14, die den Wasserstand regeln und vor Hochwasser schützen. Heute gibt es 27 Staustufen, die die 160 Höhenmeter auf der 202 Kilometer langen Strecke zwischen Plochingen und Mannheim überwinden helfen.

Im Kreis Esslingen sind drei Schleusen, drei Staustufen und drei Wasserkraftwerke entstanden. Und mit dem gewonnenen Strom wird bis heute der Ausbau des Kanals und der Bau der Kraftwerke refinanziert. Heute droht der Neckar im Kreis Esslingen trotz überlasteter Straßen und Schienenwege als Bundeswasserstraße immer mehr abgehängt zu werden, weil die hiesigen Schleusen für die inzwischen üblichen Schiffe mit einer Länge von 135 Metern zu kurz sind.

Die alten Schleusen erlauben die Durchfahrt nach Plochingen lediglich für Schiffe bis maximal 105 Meter Länge. Da sowieso eine Sanierung ansteht, fordern lokale Akteure eine Verlängerung der Schleusen auf 140 Meter Länge bis 2050.

Doch zurück zur Baugeschichte, die in dem Jubiläumsband „100 Jahre Energie im Fluss“ der Neckar AG geschildert wird. Dort wird der Bau der Laufwasserkraftwerke auch mit besagtem Energiehunger der neuen Industriegebiete erklärt, die damals entlang des Neckars entstanden. Zu den ersten Staustufen gehörte auch die in Oberesslingen. Ihre Fertigstellung verzögerte sich allerdings um fünf Jahre, denn Ende 1922 verhängte die Berliner Reichsregierung wegen der galoppierenden Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zunächst einen Baustopp.

Der vollständige Ausbau des Neckars als Bundeswasserstraße dauerte annähernd 50 Jahre. Die Bauzeit wurde 1968 mit der Eröffnung des Plochinger Industriehafens beendet. Es gab sogar Pläne, einen durchgehenden Wasserweg zwischen Oberrhein und oberer Donau zu schaffen. Dazu hatte man bereits bei Plochingen mit Ausbauarbeiten begonnen, um die Fils zwischen Plochingen und Göppingen schiffbar zu machen. Otto Konz plante ab 1938 eine Trasse für den „Süddeutschen Mittellandkanal“. Zwischen Bad Überkingen (Kreis Göppingen) und Ulm sollte der Kanal durch einen 25 Kilometer langen Tunnel geführt werden. Die rund 300 Höhenmeter hinauf zur Schwäbischen Alb sollten mit zwei Schiffshebewerken überwunden werden. Noch bis 1978 blieb das Gelände für einen Hafen bei Göppingen raumplanerisch reserviert. Die Verbindung zur Donau wurde stattdessen schließlich 1992 mit dem Main-Donau-Kanal erreicht.

Bericht: Corinna Meinke EZ 10.Aug. 2022

VOM FLOSS ZUM LASTSCHIFF

Geschichte: Seit dem Mittelalter befuhren Holzflöße, die Brennholz aus dem Schurwald transportierten, und von Pferden gezogene Treidelkähne den Neckar. Der stark mäandernde Naturfluss galt wegen seiner Stromschnellen und Untiefen als stellenweise unberechenbares Gewässer. Das drückt auch der keltische Namensursprung aus, wonach das ureuropäische Wort „nik“ losstürmen bedeutet. Im 16. bis 18. Jahrhundert gewann die Schifffahrt bei Heilbronn und Mannheim an Bedeutung, später reichte der Verkehr bis nach Stuttgart-Bad Cannstatt. Die Verlängerung bis Plochingen verhinderte die damals noch Freie Reichsstadt Esslingen, die erst 1803 ins Herzogtum Württemberg eingegliedert wurde.

Energie Pro Jahr produzieren die Wasserkraftwerke der Neckar AG rund 500 Millionen Kilowattstunden Strom aus erneuerbarer Wasserkraft und können damit rund 170 000 Haushalte CO₂-frei mit Strom versorgen. Mit der Fertigstellung des Wasserkraftwerks Esslingen ging im Jahr 2011 die jüngste Anlage an das Stromnetz. com